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VOICES-Beitrag von Christoph Rénevier

Nur freie Liebe gibt’s nicht digital

Foto: Fleet Events
Christoph Rénevier, Geschäftsführer von Fleet Events: Was sind die Geschäftsmodelle von morgen und übermorgen?
Christoph Rénevier, Geschäftsführer von Fleet Events: Was sind die Geschäftsmodelle von morgen und übermorgen?

Die Pandemie geht (hoffentlich irgendwann), die Transformation in der Messe- und Kongressbranche bleibt. Künftig wird es darum gehen, die Zielgruppen ganzjährig zu aktivieren – mit crossmedialen Events und nutzwertigem Content. Veranstalter werden zum Community Builder, meint Christoph Rénevier, Geschäftsführer von Fleet Events. Für bisherige Großmessen ist die Entwicklung eine Gefahr.

Wäre eigentlich das Woodstock-Festival in den Corona-Jahren 2020/21 denkbar? So ganz ohne freie Liebe, Marihuana-Duft und Jimi Hendrix-Gitarrensoli vorne auf der Bühne? Völlig absurd, würde man wahrscheinlich als erstes denken. Doch die Aufgabenstellung für die Messe- und Kongressbranche ist aktuell kaum kleiner. Gut, freie Liebe, Marihuana und abgespacete Riffs auf der Fender Stratocaster sind nicht unser Thema. Aber die darüberstehende, grundsätzliche Frage ist es sehr wohl: Wie binde ich als ein Eventveranstalter eine Community ganz ohne bzw. ohne das bisher bekannte Live-Erlebnis?

Unsere Community – und das gilt branchenübergreifend – ist anspruchsvoller geworden. Stärker denn je hinterfragt sie Kosten und Nutzen von Veranstaltungen. Und selbst wenn das Thema Nachhaltigkeit vorübergehend in den Hintergrund gedrängt wurde, spielt dies in Zukunft eine noch stärkere Rolle. Eine Folge der Pandemie: Digitale Veranstaltungen sind immer mehr gelernt. Gut gemacht können sie in den meisten Bereichen ähnliche Mehrwerte bieten wie reale Events: Egal ob Vorträge, Ausstellungen, Shopping- und Erlebniswelten oder auch Vernetzung bis hin zu allen Arten von Interaktion. Und so sehr wir alle den persönlichen Kontakt und Austausch vermissen, so ändert sich ja nichts an der Tatsache, dass wir auch nach der Pandemie noch immer nur 24h am Tag haben. Wir werden also viel mehr darauf achten, für was und wen wir uns auf den Weg machen, da es nun valide Alternativen gibt.

Die Anforderungen an Präsenzveranstaltungen steigen damit: Sie müssen Ausstellern und Besuchern eine bessere Chance auf einen erfolgreichen Match bieten – damit letztlich eine höhere Lead-Qualität in Aussicht stellen und in Folge auch garantieren. Sonst kommen beide nicht wieder. Gleichzeitig ist das Bedürfnis nach echtem Austausch geblieben – das gemeinsame Feierabendbier nach einem gelungenen Kongresstag, der Geschäftspartner oder die Geschäftspartnerin, den oder die man viele Jahre nicht mehr gesehen hat, und der lokale Mitbewerber, den man eigentlich schon immer mal bei einer passenden Gelegenheit ein wenig aushorchen oder ein Übernahmeangebot machen wollte. All das geht vis-a-vis immer noch am besten. Vertraulichkeit lässt sich digital nur schwer herstellen. Das eine – das Digitale – hat uns ungebremst mit voller Wucht getroffen und wird nicht wieder verschwinden. Das Andere wollen wir verteidigen, weil es uns das Geschäft sichert bzw. sicherte. Aber geht beides zusammen? Und wenn ja: wie?

Meine These ist: Eventveranstalter sind hier grundsätzlich weder Opfer der Pandemie noch sind sie zwangsläufig Leidtragende der damit verbundenen Branchentransformation. Ehrlich gesagt, so sehr wir auch Betroffene sind, so haben wir doch zumindest die Chance (oder Verpflichtung?) zur Transformation. Das haben weder Hoteliers noch Gastronomen. Auch der Großteil der Kulturbranche mit den Theatern, Konzerten und Kinos bis hin zu den Schaustellern hat -kaum vergleichbare Möglichkeiten.

Wir durften uns also einmal kurz jammernd in den Armen liegen – die Opferrolle liegt eh nicht in unserer DNA – nun gilt es, die sich bietenden Chancen zu ergreifen. Die sind nicht nur erheblich, sondern deren Ausgestaltung liegt allein in unseren Händen. Doch das setzt einen tiefgreifenden Strategie- und Mindset-Wechsel voraus. Wir müssen uns aus der Rolle des Einzel-Format-Veranstalters lösen und stärker zum Community Builder werden. Zu einem Anbieter, der seiner Zielgruppe ganzjährig und völlig kanalunabhängig echte Mehrwerte bietet und sie damit an sich bindet. Über physische Events genauso wie über digitale Ableger, Owned und Earned Media wie Blogs, Podcasts oder auch Clubhouse – gerne auch über eine zentrale, markenstärkende Großveranstaltung.

Doch selbst diese ist künftig ein Teil der gesamten Wertschöpfungskette und mittelfristig nicht mehr die zentrale Einnahmequelle. Natürlich: Das setzt erweiterte und auch andere Skills voraus. Strategie, Inszenierung, Kreativität, Vermarktung und ein perfektes Organisationstalent – das bleibt; bekommt aber nun eine mehrdimensionale Komponente. Hinzu kommt künftig Technologie-Knowhow (zum Aufbau entsprechender technologischer Plattformen) und die Content-Kompetenz. Was beschäftigt meine Zielgruppe wirklich? Welche Trends kann ich antizipieren? Und was sind die Geschäftsmodelle von morgen und übermorgen?
„Viel stärker wird es künftig zu neuen Allianzen von Community-Ownern und Eventveranstaltern kommen.“
Christoph Rénevier, Geschäftsführer von Fleet Events

Eine solche Entwicklung verändert bestehende oder ermöglicht ganz neue Partnerschaften. Viel stärker wird es künftig zu neuen Allianzen von Community-Ownern und Eventveranstaltern kommen. Die einen haben die inhaltliche Kompetenz, aber häufig nicht die geeigneten Geschäftsmodelle, das zu monetarisieren. Die anderen haben die Erfahrung, den Zugang zur Zielgruppe zu einem tragfähigen Business Case zu machen, doch es fehlt häufig an Wissen für entsprechende Content-Formate, die kanalspezifische Aufbereitung und die richtige Tonalität. Zusammen könnten beide ihre Assets vereinen. Events und Inhalte als One-Stop-Shop für klar umrissene Zielgruppen.

Ebenso wird sich die Taktfrequenz dramatisch erhöhen. Die Digitalisierung ermöglicht es schneller denn je, neue Branchenschwerpunkte zu besetzen. Quasi aus dem Homeoffice können Eventveranstalter planen, in weitere Industriezweige vorzustoßen. Im ersten Schritt, indem sie sich mit allen weltweit relevanten Playern im Markt vernetzen, mit nutzwertigem Content versorgen und so schnell eine entsprechende Datenbank aufbauen. Im zweiten, indem-sie ihre neu gewonnenen Kunden zu eigens für sie geschaffenen digitalen Events einladen. Und im dritten Schritt, erst wenn eine entsprechende Community wirklich etabliert ist, folgen die physischen Events.

So oder so: Am Ende steht ein echter Knowledge-Service-Provider mit Full-Service-Anspruch: von Best Practice-Seminaren, Deep Dive-Konferenzen und inspirierenden Produktpräsentationen über Networking-Sessions und VIP-Clubs bis hin zu ganzjährigen fachspezifischen Content-Formaten. Eine Großveranstaltung für alle? Möglich, aber längst kein Muss mehr.

Wir werden uns umstellen müssen: Die Großveranstaltung als kleinster gemeinsamer Nenner einer Branche verliert an Bedeutung. Auch, weil sich Industriezweige und herkömmliche Cluster so schnell wandeln. Cebit oder Photokina in Gänze und IAA in Teilen zeugen etwa von dem Niedergang der Messe-Dinos. Das muss nicht zwangsläufig so sein, doch die Gefahr wächst. Umso wichtiger ist es, mit entsprechend flexiblen Strukturen und agilen Methoden auf die veränderten Rahmenbedingungen reagieren zu können. Alles wird man damit nicht retten können. Woodstock etwa war ein Mythos. Der lässt sich nicht wiederbeleben. Auch nicht digital. Christoph Rénevier
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